Thomas Wydler – Der Trommler
Natürlich erscheint er im Anzug, rasiert und gekämmt, 13 Uhr, Berlin-Schöneberg, Ecke Belziger Strasse und Akazienstrasse. Über dem Arm ein Regenmantel, dazu eine Sonnenbrille mit feinem Goldrand. So sehen in Jean-Pierre Melvilles Gangsterfilmen die Bankräuber aus, bevor sie sich in einem gestohlenen Cadillac aus dem Staub machen. Oder Thomas Wydler, 64, Schlagzeuger in der am besten angezogenen Rockband der Welt: bei Nick Cave and the Bad Seeds. Google Maps zeigt im Umkreis von ein paar hundert Metern gleich zwei historisch bedeutsame Orte an. Wobei deren Stellenwert davon abhängt, für welche Geschichte man sich interessiert: Weltgeschichte oder Pop-Geschichte? In die erste Kategorie fällt das Rathaus Schöneberg, auf dessen Balkon John F. Kennedy 1963 seine berühmte «Ich bin ein Berliner»-Rede hielt. Zur zweiten Kategorie gehört der Hausteil an der Hauptstrasse 155. Hier lebte von 1976 bis 1978 der britische Musiker David Bowie hinter verdunkelten Fenstern und arbeitete an drei seiner wichtigsten Alben. Und irgendwo zwischen Welt- und Pop-Geschichte wohnt Thomas Wydler
Auch wenn Nick Cave über ihn sagt, er trommle «wie eine Schweizer Uhr», hört man seinem Spiel nicht an, dass er Schweizer ist. Wydler lässt seine Stöcke viel zu frei und intuitiv über die Felle tanzen, als dass er sich einem Metronom beugen würde. Nur logisch, dass seine Vorbilder Jazz-Schlagzeuger sind. Er nimmt die Sonnenbrille aus dem Gesicht und mustert sein Gegenüber: «Du bist zu gross für mein Auto.» Kein Cadillac also. Dafür ein praktischer Smart. Ist natürlich das letzte Gefährt, das man einem Mitglied der legendären Bad Seeds zuschreibt. Einer Band mit Hang zur grossen Geste, bei der das Dunkle seit ihrer Geburt im Namen keimt. Aber gut, selbst Nick Cave, den Wydler liebevoll «Chef» nennt und der früher schon mal Journalisten vermöbelte, wenn sie ihm die falschen Fragen stellten, ist im Alter milde geworden; ein Botschafter der Innigkeit, die Umkehrung der Gefahr.
Auch «Wild God», das neue Album, das Ende August erscheint, drängt ans Licht, durchbricht den Nebel, der sich in den letzten zehn Jahren wie eine bleierne Decke über Caves Leben gelegt hatte: Zwei Söhne verlor er in dieser Zeit. «Wild God» strebt nach Erlösung. Es ist ein Album zum Niederknien, mit Gospelchor und Flügelhörnern. Und natürlich trommelt Wydler mit. Seit 1985 spielte er auf jeder der fast zwanzig Studioplatten von Nick Cave and the Bad Seeds.
Auf Youtube gibt es eine Reihe von Videoclips, die «The Making of ‹Wild God›» in einem Studio in Südfrankreich dokumentieren. Da sieht man die älteren Herren mit weit aufgeknöpften Hemden auf weissen Sofas fläzen. Cave sorgt sich um sein Haar («Hair alright?»), Warren Ellis krault sich den Bart, vor allem aber kann man Thomas Wydler beim Trommeln beobachten, was immer wieder ein Ereignis ist. Wie er lenkt und gestaltet, zügelt und entfesselt, Weichen stellt und antreibt. Dabei nimmt er die lauernde Körperhaltung der alten Jazz-Füchse ein, die den linken Stock noch zwischen Daumen und Zeigefinger schwingen liessen.
Seinen ersten Anzug kaufte er 1978 im Brockenhaus Dübendorf. Für einen Aushilfe-Gig mit der Zürcher Punkband TNT («Züri brännt»). Sara Schär, die Sängerin, war irritiert: «Bist du ein Mod?» Dabei hatte Wydler damals weder von Mods noch von Punks eine Ahnung. Zu seinen Lieblingsplatten gehörte «This Is Our Music» des Free-Jazz-Saxofonisten Ornette Coleman von 1961. Auf dem Cover sind die Musiker in Anzügen zu sehen. «Diese Typen spielten den radikalsten Sound, aber sie trugen die traditionelle Jazz-Kluft mit Stolz», sagt Wydler. «Ich beschloss, dass das auch im Punk möglich ist.» So gesehen sind die eng geschnittenen Anzüge, die ein paar Jahre später zum prägenden Look der Bad Seeds werden sollten, Wydlers Begeisterung für Ornette Coleman und seinem Auftritt mit einer Zürcher Punkband geschuldet.
Wydler steuert seinen Smart aus einem Hinterhof. Ein Schlagzeug hat in so einem Wagen natürlich keinen Platz. Doch jemanden, der bei Nick Cave spielt, muss das nicht kümmern. Trommeln schleppen, diese Zeiten sind lange vorbei. Mit dem Album «Push the Sky Away» von 2013 wurden die Hallen, in denen die Band spielt, noch einmal grösser, und wenn Wydler zum Soundcheck eintrifft, steht das Schlagzeug schon auf seinem Podest. Dass die Bad Seeds mit dieser intimen und anspruchsvollen Platte ein noch breiteres Publikum erreichen konnten als bisher, habe sie alle erstaunt, sagt Wydler. «Wir fragten uns, ob wir diese Musik vor zehn- oder zwanzigtausend Menschen spielen können, ohne wie eine stumpfe Rockband zu klingen.» Dass das geht, zeigte der Auftritt im Zürcher Hallenstadion vor fünf Jahren. Nick Cave and the Bad Seeds gelang die Umdrehung des Stadionrock-Prinzips: klangliche Tiefenschärfe statt Bombast.
In Wydlers Sonnenbrille spiegeln sich Cafés, Boutiquen, Bioläden, Platanen. In den Achtzigern sah es in Schöneberg anders aus. Roher, grauer, kälter. So, wie die Bad Seeds früher klangen. 1980 kam er zum ersten Mal nach Berlin. Er war 21 und spielte mit der Band Mutterfreuden des Zürcher Punk-Pioniers Rudolph Dietrich in der Music Hall, einem kleinen Szeneklub. An einer Party sah er das erste Konzert der Einstürzenden Neubauten. Für Wydler eine Offenbarung. Er hatte noch nie etwas Vergleichbares gehört und gesehen. Statt im Band-Bus zurück nach Zürich zu fahren, blieb er in der eingemauerten Stadt, diesem Hafen für Hippies, Punks, Wehrflüchtige, Künstler und Freaks. Hier fand er, wonach er in Zürich vergeblich gesucht hatte: eine Musikszene, die ihn weiterbrachte, das Beste aus ihm und seinen Trommeln herausholte. Es gab genügend Proberäume, billige WG-Zimmer und keine Polizeistunde. Dass er bald zur Speerspitze des «Berliner Sounds» gehören würde, ahnte er noch nicht.
Wydlers Übungsraum liegt im Erdgeschoss einer ehemaligen Druckerei. Im Gang hängt ein Poster des Malers Christopher Lehmpfuhl, mit dem er befreundet ist. Lehmpfuhl ist auch Pianist. Zusammen haben sie kürzlich eine Platte mit Musik von Johann Sebastian Bach aufgenommen. Klavier und Schlagzeug. «Aber nicht wie Jacques Loussiers ‹Play Bach› – abstrakter, freier.» Überhaupt nimmt sich Wydler in seinen Soloprojekten die Freiheit, experimenteller zu sein, als er es bei den Bad Seeds sein darf. Zum Beispiel bei «On The Mat – And Off», einem Konzeptalbum auf den Spuren seines schwedischen Urgrossvaters, der nach Amerika ausgewandert war und als «stärkster Mann der Welt» im Madison Square Garden auftrat. Der atmosphärische Soundtrack zeigt, dass Wydler auch ein guter Komponist und Arrangeur ist. Kein Wunder, führt ihn das «Nick-Cave-Köchelverzeichnis» («TAZ») als Mitverfasser von «Red Right Hand» auf, einem Bad-Seeds-Klassiker von 1994, der zwanzig Jahre nach seiner Entstehung zum Titelsong der Gangster-Serie «Peaky Blinders» wurde
Der Übungsraum ist kaum grösser als sein Smart, verstellt mit Kartonschachteln, einem Klavier und Türmen von abgewetzten Trommelkoffern. Er komme täglich hierher, das Schlagzeug sei für ihn wie eine Sucht. Als Kind wollte Thomas Wydler Fussballer werden, später Radprofi. Er trainierte bis zum Umfallen, aber er war nicht gut genug. «Das merkst du spätestens dann, wenn du abgehängt wirst.» An der Wand kleben Fotos seiner Lieblings-Drummer: Gene Krupa, Pierre Favre, Jaki Liebezeit, Daniel Humair, davor steht sein eigenes Set. Natürlich weiss er von jeder Trommel das Baujahr: Ludwig 1968, Gretsch 1952, Premier 1957 . . . Sie sind so gestimmt, dass sie lange nachklingen. Wydler spielt ein paar Takte, dann sagt er: «Ein Schlagzeuger muss leistungsfähig sein. Motorisch, körperlich, geistig. Vor allem, wenn man mit einem ausdrucksstarken Sänger wie Cave spielt. Wenn ich ihm keinen Halt gebe, wirft es ihn aus der Bahn.»
Im Dokumentarfilm «Nick Cave: 20 000 Days on Earth» gibt es eine schöne Szene, in der man Wydler und seinem «Chef» zusehen kann, wie sie «Higgs Boson Blues» einspielen, ein Stück, das sich bis zur Ekstase entfaltet. Jedes Timbre in Caves Stimme spiegelt sich in Wydlers Gesicht. Man kann sich dieses mimische Zwiegespräch auch ohne Ton ansehen, um die Dramatik des Songs zu begreifen. Und gelangt zur Überzeugung, dass zwischen den beiden ein unsichtbarer Draht bestehen muss, über den alle nötigen Impulse verlaufen, um die Musik zum Vibrieren zu bringen.
Thomas Wydler wuchs im Zürcher Seefeld auf. Der erste Sound, an den er sich erinnert, war der Big-Band-Jazz, den sein Vater, ein Geschäftsmann, zu Hause hörte. Wydler spielte kein Instrument, dafür verschlang er die Bücher des deutschen Jazz-Kritikers Joachim-Ernst Berendt. Der Radsport bewog ihn, eine Pöstlerlehre zu machen. Als Briefträger würde er viel zu Fuss unterwegs sein. Zwar fürchtete er sich vor den Hunden, die nach ihm schnappten, doch er wusste, wo sie lauerten. Er war fit und trank keinen Alkohol. An den Wochenenden trainierte er verbissen. Wydler war ein geladener Teenager, der Sport sein Ventil. Dass er an Grenzen stiess, wollte er nicht wahrhaben. Während seines ersten Lehrjahrs sah er im Schaufenster eines Musikgeschäfts im Niederdorf ein Schlagzeug stehen. Das war 1977. Wydler betrat den Laden und erkundigte sich nach einem Schlagzeuglehrer. Man gab ihm eine Nummer, er wählte sie noch am selben Tag. Der Anruf war das Ende seiner sportlichen Träume und der Anfang einer neuen Berufung als Musiker. Sein erster und einziger Lehrer war Sal Celi, ein amerikanischer Funk- und Jazz-Drummer, der gerade von New York nach Zürich gezogen war und Wydlers Talent erkannte. «Das Erste, was er mich fragte, war: Was für Musik willst du spielen?› Ich: ‹Jazz.› Er: ‹Fang mit Rock’n’Roll an, damit verdienst du später vielleicht mehr!›» Die Frau des Schlagzeuglehrers war Wydlers Englischlehrerin. Ihr Kollege an der Sprachschule spielte Gitarre in einer New-Wave-Band, die einen Drummer suchte. Also fragte die Englischlehrerin ihren Mann, ob er einen Schüler empfehlen könne. So kam Thomas Wydler 1978 zu Hertz. Der Sänger der Gruppe, Dominique Grandjean, wurde später mit seiner Band Taxi und dem Hit «Campari Soda» schweizweit berühmt. Aber da war sein ehemaliger Schlagzeuger schon in Berlin. Denn er wusste: Wenn er nicht sein Leben lang Pöstler bleiben wollte, musste er weg aus Zürich.
Seit 1989 lebt Thomas Wydler im fünften Stock einer Schöneberger Altbauwohnung. Er ist Vater eines Sohnes, seine Partnerin ist die Musikerin Beate Bartel. In seinem Arbeitszimmer steht ein grosser Schreibtisch, überall reihen sich Schallplatten, Bücher, CD. Kunst von Freunden an der Wand, Fenster in den Hof. 1981 hatte sich Wydler der Berliner Instrumental-Band Die Haut angeschlossen. Sie spielte ein Amalgam aus No Wave, Film-Noir-Soundtrack und Improvisation. Zusammen mit den Einstürzenden Neubauten gehörte das Quartett zu den Avantgarde-Stars im von Atomkrieg-Paranoia und Amphetaminen aufgeputschten Westberlin.
1982 strandete ein australischer Musiker namens Nick Cave mit seiner damaligen Band Birthday Party in der Stadt. Cave fühlte sich im Berliner Underground wie die Fledermaus in einer Tropfsteinhöhle. Er war begeistert von Wydlers Band und nahm Die Haut als Support mit auf Tournee. Nach seiner Rückkehr trommelte er eine neue Gruppe zusammen: Sie sollte Nick Cave and the Bad Seeds heissen. 1984 erschien das erste Album, «From Her To Eternity», ein Jahr später wurde der Schlagzeugstuhl frei. Wydler sprang ein. Heute ist er mit Cave das dienstälteste Mitglied der Bad Seeds. Jeder künstlerische Beruf ist mit dem Risiko einer prekären Existenz verbunden. Am Ende ist es die Kombination gewisser Umstände, die für oder gegen das Gelingen einer Karriere sprechen. Thomas Wydler nennt drei Komponenten: Ausdauer, Glück, Gesundheit. Das könnte schweizerischer nicht klingen, aber der Mann spricht aus Erfahrung. «Die ersten Jahre standen wir viermal die Woche im von Ratten verseuchten Proberaum. Da musste man schon sehr getrieben sein, um das zu wollen.» Er sei zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort auf die richtigen Leute getroffen, erst in Zürich, dann in Berlin.
Und was die Gesundheit betrifft: Das Tourneeleben ist körperlich anstrengend. Er habe viele Weggefährten krank werden sehen, nicht wenige seien gestorben, auch an den Folgen von Drogen. Nick Cave brauchte zehn Jahre, um vom Heroin loszukommen. Vielleicht hatte Wydler auch deshalb immer einen grossen Bogen um harte Drogen gemacht. «Als Schlagzeuger kann man nicht spielen, wenn man ‹drauf› ist», sagt er. «Das war immer meine persönliche Berufsauffassung.»
Er legt eine CD in den Player, «Frogs» vom neuen Bad-Seeds-Album, laut genug, um den Bass wie Pulsschläge auf der Haut zu spüren. Das Schlagzeug setzt ein, gespielt mit der Eleganz des Anzugträgers. Die Wirbel rollen, die Stöcke tanzen. Und dann, zur Hälfte hin, hebt der Trommler ab und reisst die Band mit, höher und höher und höher. Als Nick Cave einmal gefragt wurde, ob es ihm nach all den Jahrzehnten noch Freude bereite, auf eine Bühne zu steigen, sagte er: «Ja, weil das der Moment ist, in dem ich die Person sein kann, die ich immer sein wollte.» Thomas Wydler wollte nie eine andere Person sein, jedoch immer ein guter Schlagzeuger. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Dominique Grandjean, der Sänger seiner ersten Band, Hertz, schrieb 1978 eine verschmitzte Ode auf den jungen Pöstler Wydler. «PTT-Postbeamter / Unser Mann am Schalter», heisst es in dem Lied. «Quittiert und unterschreibt / Er stempelt Ort und Zeit / Briefe kommen und gehen / Er bleibt immer stehen.» Wäre Thomas Wydler damals in Zürich «stehen geblieben», hätte er vielleicht Karriere bei der Post gemacht. Dann wären die Bad Seeds heute nicht die am besten gekleidete Rockband der Welt. Und die Schweiz um ein Stück Pop-Geschichte ärmer.
© Frank Heer, 18. Augsut 2024 für die NZZ